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Mein NST

Ein Beitrag von Wildwortwechsel, Class of 2022

Warum eigentlich wandert man 3.528 Kilometer durch Deutschland? Diese Frage stellte ich mir schon, bevor ich überhaupt loslegte. Erst recht stellte sich mir die Frage nach dem Sinn, wenn’s auf dem Trail mal nicht so gut lief. Warum, zur Hölle, tue ich mir das eigentlich an? Noch öfters wurde mir diese Frage von den vielen Menschen unterwegs gestellt, und die Antwort war hier wie da nie so ganz einfach. Kaum hatte ich die Antwort auf diese Fragegefunden und davon erzählt, folgte die typisch zweite Frage: Was gefällt dir am NST am Besten?

Die Frage nach dem Warum zu beantworten, fällt mir tatsächlich nicht leicht. Jeder, der so einen Weg geht, hat seine eigenen, oft sehr privaten Gründe. Bei mir war es eine Mischung aus vielen Gründen. Da war zum einen der Versuch, Abstand zur Tagesroutine zu gewinnen, `mal auszubrechen aus dem Trott, um die Freiheit auf dem Trail zu genießen. Für ein halbes Jahr mein Leben ohne Arbeitsdruck zu leben und zu gestalten! Ich versprach mir davon, zurück zu mir selbst zu finden, einen Weg in mein Innerstes aufzutun, um wieder mehr ich selbst zu sein und keine Marionette der Gesellschaft, der Arbeit, der Zwänge und Erwartungen.

WildWortWechsel - Thruhiker Class of 2022

Auf der anderen Seite fühlte ich diese Neugierde in mir, ob ich so einen Weg überhaupt schaffen könnte – und wie ich es angehen würde. Da ich schon lange fernwandere, war die Frage nach der Ausrüstung bis auf Kleinigkeiten schnell geklärt. Da ich ein Zeitfenster hatte, in dem ich den NST laufen musste, war auch klar, dass ich täglich um die 25 Kilometer schaffen musste, wenn ich ausreichend Reserve für regelmäßige Nuller haben wollte – oder auch mal, um ein Gewitter auszusitzen.

Um das Risiko zu verkleinern, am Weg zu scheitern, trainierte ich ein halbes Jahr zuvor wirklich intensiv, wanderte jedes Wochenende bei jedem Wetter eine Tour und war zwei, drei Mal die Woche im Fitnessstudio. Als ich startete, fühlte ich mich so richtig fit für den NST. Doch nach vier Wochen kam der Schock: Vorderkanten-Schienbeinsyndrom wie aus dem Nichts. Von vier ThruHikern der Class of 2022 traf es drei, die krankheitsbedingt länger pausieren mussten. Für mich bedeutete das, für vier Wochen von Hundert auf Null! Ich musste runter vom Trail, wobei mir vorher nicht nicht klar gewesen war, wie viel Kraft ich dafür aufbringen musste, nichts – also garnichts – zu tun.
Ein täglicher Kraftakt, das kann ich euch sagen! Nun ja, am Ende hat sich die Geduld gelohnt. Dank der Hilfe und Unterstützung vieler lieber Freunde, schaffte ich es zurück auf den Trail. Aber ich hatte meine Trailroutine verändert!

WildWortWechsel auf der Löwenburg (Siebengebirge)

Die restlichen 2.800 Kilometer schaffte ich nur, weil ich wirklich jeden Tag auf meinen Körper gehört und richtig viele Pausen eingelegt habe, manchmal schon nach zwei, drei Kilometern, wenn’s eben nicht so lief. Die Mittagspause verlängerte ich auf mindestens eine Stunde. Wurde es einmal länger, sollte es mir auch recht sein. Zudem versuchte ich immer ein Plätzchen zu finden, wo ich ein Nickerchen machen konnte. Unglaublich, wieviel Kraft mir diese kurzen Power-Naps geschenkt haben. Kann ich nur jedem empfehlen! Insgesamt legte ich vier, fünf Pausen täglich ein, auch wenn ich dadurch erst in der Dunkelheit mein Tagesziel erreichen sollte.
Außerdem legte ich nach spätestens zehn Wandertagen einen Nuller ein, manchmal auch schon früher. Zum Glück hatte ich genügend Zeitreserven eingeplant, so dass ich mir trotz der Ausfallzeit genügend Nuller leisten konnte. Ehrlich, ich war so froh, sechs Wochen als Reserve eingeplant zu haben, von denen ich tatsächlich fünf

Wochen aufgebraucht habe. Doch die wichtigste Veränderung waren die Schuhe: Von leichten Wanderstiefeln wechselte ich auf Trailrunner. Damit hatte ich auf der restlichen Strecke keinerlei gesundheitlichen Probleme mehr!
Ich wollte den NST aber nicht nur gehen, weil ich es konnte oder um Deutschland besser kennen zu lernen. Mir war die ganzheitliche Wahrnehmung des Weges wichtig. Ich wollte die Natur, die Kultur, die Menschen besser kennenlernen, die ich unterwegs treffen sollte. Wer Soulboys Videos kennt, der weiß natürlich, wie unglaublich schön der NST ist! So oft konnte ich mich kaum an der Schönheit der Natur satt sehen, blieb einfach stehen, um einen Sonnenuntergang abzuwarten, eine Wolke zu betrachten, die durch den Himmel zog, eine Fernsicht über Hügel und Täler, Wälder und Flüsse in mich aufzusaugen, als gäbe es kein Morgen. Ich weiß noch, wie ich nach einem Regen auf dem Weserbergland-Weg ganz langsam durch den Wald ging, diese unglaublich frische Luft atmete, den Geruch von nassem Moos und feuchten Laub in mich einzog. Dann merkte ich, wie ich dabei lächelte, weil ich mich so unbeschwert und frei fühlte. Diese Momente sind unbezahlbar.

Gleich ganz oben im Norden ging ich einen Umweg zum Nolde-Museum, den ich nicht bereut habe. Ebensowenig wie alle anderen Umwege zu Museen oder anderen Sehenswürdigkeiten, die ich auf dem Weg fand, denn diese Besuche empfand ich wie das Tüpfelchen auf dem i. Nolde traf ich ziemlich unvorbereitet, denn so weit oben im Norden war ich noch nie zuvor gewesen. Die Wikinger traf ich in Haithabu, es folgte Eulenspiegel, Münchhausen, ungezählte Burgruinen, Keltenringe, vergessene Kirchen abseits des Weges, sogar eine Pyramide habe ich gefunden, und nichts davon will ich missen, insbesondere nicht das kleine Museum in Tholey, wo ich mit dem Brauch des Totenschmucks des jungen Mädchens vertraut wurde, die als Braut geschmückt beerdigt wurde, um im Himmelreich einen Bräutigam zu finden. Noch heute denke ich daran mit einer kleinen Träne im Auge.

Was aber hat mich jetzt am meisten am NST beeindruckt? Hättet ihr mich vor dem NST gefragt, hätte ich wahrscheinlich so etwas wie die Natur geantwortet. Oder das Abenteuer, einen so langen Weg zu gehen. Heut weiß ich es besser, denn der NST hat alles verändert! Vor allem anderen meine Sicht auf die Menschen. Auf über 3.500 Kilometer erlebte ich eine einzige Begegnung, die irgendwie unangenehm gewesen ist. Ansonsten empfing ich so unglaublich viel Unterstützung. Beispielsweise oben auf dem Weinbiethaus, das bereits geschlossen hatte, und wo ich nach dem harten Aufstieg dennoch ein ganzes Abendessen geschenkt bekommen habe – und viel mehr. Überhaupt waren die Menschen unterwegs so hilfsbereit gewesen! Brauchte ich Wasser, war jemand da, der mir welches gab. Suchte ich eine Unterkunft für die Nacht, gab mir jemand einen guten Hinweis. War ich etwas einsam, immer traf ich auf Menschen, die sich für ein Gespräch Zeit genommen haben, mir zuhörten, so wie ich ihnen zuhörte.

Das Haldenwanger Eck - Ziel des Nord Süd Trails.

Tja, und dann traf ich euch: die Trailangels des NST. Ihr habt mich abgeholt, für mich gekocht, gegrillt, gebacken, mir ein warmes Bett zur Verfügung gestellt, oft länger als nur für einen Tag. Für kurze Zeit war ich Familienmitglied, sei es in der WG oder unter eurem Dach. Ihr habt meine Wäsche gewaschen und mir eure Dusche zur Verfügung gestellt. Ihr habt mich auf dem Trail besucht, mir Trailmagic geschenkt, mich begleitet oder eine Stadtführung geschenkt, mir mit guten Gesprächen und wertvollen Tipps weitergeholfen. Ihr brachtet mir Freude und Freundschaft entgegen, die ich mit nichts auf der Welt hätte tauschen wollen! Ihr seid es, die wunderbare Trailcommunity, die den NST so beeindruckend macht! Dafür bin ich euch allen so dankbar und freue mich, euch hoffentlich bald wieder zusehen.
Bis dahin,

Hike on!

PS: Falls ihr euch jetzt fragt, ob ich tatsächlich zurück zu mir gefunden habe, dann ist das eine ganz andere Story. Denn nach dem NST, soviel steht fest, ist nichts mehr, wie es einmal war …

Unterstützer und Thru-Hiker des Nord Süd Trails der Klasse von 2022.

Comments

  • 28. Januar 2023

    Ein wirklich toller Bericht, ich erkenne viele Sachen wieder, wo ich genauso gefühlt oder gedacht habe. Auch mich hat der NST verändert….🥰 LG

  • Hobble
    4. Februar 2023

    Hallo WWW.
    Ein kurzer, aber feiner Post, der Deine Emotionen sehr gut rüberbringt und einen beim Lesen mitfühlen lässt.
    Eine Frage habe ich. Hat Dich eine „Post-Trail-Depression“ erwischt?
    Ich hörte mal davon, dass viele Menschen nicht damit klarkommen, wenn sie eine Fernwanderung hinter sich haben und nun wieder in ihr „normales“ Leben zurückkehren.

    Gruß
    Hobble

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